Die Frühlingsgefühle in der tschechischen Universitätsstadt Hradec Králové unweit der polnischen Grenze erwachen trotz politischer Unsicherheit, spürbarer wirtschaftlicher Anspannungen und zwei einschneidenden Corona-Jahren. Hier ist der Berner Kaspar Zehnder seit 2018 Chefdirigent der Philharmonie Hradec Králové. Wie er die Stadt an der Elbe zurzeit erlebt, was ihn motiviert und wie er das Musikprogramm zusammenstellt, lesen Sie im Interview mit Angela Kreis-Muzzulini.
Kaspar, Du bist seit 2018 Chefdirigent der Philharmonie Hradec Králové und trittst auch als Solist des Öfteren im osteuropäischen Raum auf. Im Juni gibst Du nach zehnjähriger Tätigkeit das Chefdirigat beim Sinfonie Orchester Biel Solothurn ab. Was fasziniert dich am osteuropäischen Musikbetrieb und zieht es dich in Zukunft noch vermehrt in die osteuropäischen Staaten?
Abgesehen davon, dass meine Frau aus Rumänien stammt, schlägt mein Herz seit der Kindheit für die Osteuropäischen Musik. Als ich zum ersten Mal in Prag war, fühlte ich mich auf sehr seltsame Weise total zu Hause. Inwiefern Osteuropa in Zukunft noch mehr mein Schwerpunkt sein wird, kann ich aber nicht sagen. Ich habe gelernt, dass es weniger wichtig ist, wo man eine Sache macht, als wie, wann und mit wem. Die Philharmonie Hradec Králové mit ihren rund 90 Musiker*innen wird in der nächsten Zeit meine Priorität sein, das bin ich diesem engagierten, motivierten und in letzter Zeit sehr verjüngten Orchester an der Elbe (Hradec Králové ist sozusagen die erste Elbphilharmonie!) schuldig.
Wie fühlst Du dich in dieser historisch hochinteressanten Stadt?
Ich bin gerne hier, man nennt die Gegend nicht umsonst „Salon der Republik“. Meine Wohnung liegt am Smetana-Ufer direkt an der Elbe, gegenüber der Philharmonie. Von der Haustür weg führen Velo- und Spazierwege in die schöne Umgebung von Böhmens Hain und Flur. In der Stadt selbst hat es viele Plätze zum Draussensitzen, es gibt eine Uni hier, viele junge Leute, eine Kathedrale mit Bischofssitz, zahlreiche Museen, ein Stadttheater, einen modernen Konzertsaal (der sich übrigens wie in Biel im gleichen Gebäude befindet wie das Städtische Schwimmbad und andere Sporteinrichtungen) mit exzellenter Akustik und darin ein wunderbares Team auf der Bühne und hinter den Kulissen sowie ein neugieriges und offenes Publikum, was will man denn mehr?
Wie erlebst Du Stadt und Region Hradec Králové in dieser fragilen Zeit?
Natürlich spürt man die Verunsicherung, die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen, die sich bereits ankündigen: Inflation, drohende Budgetkürzungen überall. Ansonsten ist aber auch hier langsam Frühling, und man bekommt die Lust am Leben ebenso hautnah mit wie Notwendigkeit eines spirituellen Konzerts. Wir haben in jedem Konzert viele Ukrainier*innen aus dem nahen Flüchtlings-Camp zu Gast. Im Orchester selbst spielen etliche ukrainische Staatsbürger. Wenn man zurückdenkt an die Zeit zu Beginn der Pandemie, so kann man stolz sein, wie professionell hier alles gemanagt wurde, ohne das Wichtigste, das Miteinander Spielen ganz aufzugeben. Aber es war nicht leicht, während insgesamt fast eines Jahres als Chef nicht zu meinem Orchester reisen zu können
Zum Konzertprogramm der Philharmonie Hradec Králové vom Mittwoch, 13. April 2022: Du bettest das 1953 komponierte Vokalwerk «Stabat Mater» von Ernst von Dohnányi zwischen Ralph Vaughan Williams’ «Fantasie über ein Werk von Thomas Tallis» und Dvořáks Sinfonie in d-Moll op. 13. Was führt beziehungsweise leitet dich jeweils in der Programmierung deiner Konzerte?
Meistens gibt es eine Vorgabe, ein Solokonzert, eine Solistin, die bereits feststeht, oder einen besonderen Anlass im Jahr. Hier war das Karfreitags-Stück, das Stabat mater von Ernst von Dohnányi ausschlaggebend. Es ist ein zauberhaftes, inniges, sinnliches spätromantisches Stück für drei Solistinnen, zwei Frauenchöre und Kammerorchester. Wir haben das Glück, vor Ort in Hradec Králové mit Jitro einen weltbekannten Mädchenchor zu haben. Zusammen mit ehemaligen Mitgliedern haben sie sich zum Doppelfrauenchor erweitert.
Die mehrchörige Besetzung brachte mich auf die Idee, das Konzert mit der „Fantasy on a Theme by Thomas Tallis“ für Streichquartett und zwei Streichorchester des englischen Komponisten Ralph Vaughan Williams zu eröffnen. Auch das ist ein wunderbares, spirituelles Stück, geschrieben für die Akustik einer gotischen Kathedrale.
Und dann Antonín Dvořáks selten gespielte Vierte: Im unvergleichlichen langsamen Satz erlebt man Dvořáks persönliche Entwicklung, beginnend im Frühstil, wo er suchend am Wagner und Liszt angeknüpft hatte, endend als der unverwechselbare Komponist des Stabat mater, des Cellokonzerts oder der Rusalka. Und es gibt in der Vierten auch die Verklärung von der Todestonart d-Moll zum lebensbejahenden D-Dur, das passt sehr gut zu Karfreitag und Ostern, wobei F-Dur (sinnbildlich für die Natur) beim Übergang eine wichtige Rolle spielt, das wiederum passt zu Dvořák und seiner musikalischen Reflexion über die böhmischen Wälder und Hügel.
Danke für die interessanten Hintergrundinformationen, Kaspar. Ich wünsche dir und allen Beteiligten einen unvergesslichen Konzertabend!
Bildlegende: Smetana-Ufer in der Stadt Hradec Králové (Tschechien); im Hintergrund die Kathedrale und das mittelböhmische Museum, ein revolutionärer Bau des international bedeutenden tschechischen Architekten Jan Kotěra aus dem Jahr 1909. Die Philharmonie liegt auf der rechten Seite der kleinen Brücke. (Photo: Kaspar Zehnder)