Zur Johannes-Passion

Kaspar Zehnder: „Bachs Musik ist ein Universum. […] Seine Musik ist eine Synthese von intellektuell durchdachter Meisterschaft und emotionaler Energie“.

Interview mit Kaspar Zehnder von Natalie Widmer (Dramaturgin bei Theater Biel Solothurn TOBS) zu den Aufführungen der Johannes-Passion in Biel (7. April 2022) und Bern (9. April 2022)

«DAS GRAB IST NICHT DAS ENDE»

Robert Schumann fand die «kleine» Johannes-Passion um vieles «kühner, gewaltiger und poetischer» als die grosse nach Matthäus, würdest Du ihm zustimmen? Was zeichnet die Johannes-Passion aus?

Kühner, gewaltiger, und poetischer ist angesichts der Dimension der Matthäus-Passion etwas provokativ gesagt, aber Schumann liegt schon richtig: Die Johannes-Passion ist zwar auf den ersten Blick weicher und intimer als diejenige nach Matthäus, das lässt sich bereits anhand der Grundtonart g-Moll und vielen weiteren B-Tonarten erläutern, während in der Matthäus-Passion e-Moll, h-Moll und weitere Kreuztonarten wichtig sind. Aber die Johannes-Passion ist auch vielerorts dramatischer, zum Beispiel beim Verhör durch Pilatus, wo sich die einzelnen Rezitative und Turbae-Chöre sehr schnell abwechseln. Für die Zuhörenden entsteht da ein Sog, ein Handlungsstrudel, der sich erst mit der vollbrachten Kreuzigung allmählich beruhigt. In den letzten Arien und den beiden letzten langen Rezitativen, wo Johannes die Propheten aus dem Alten Testament zitiert, wird der Text nicht nur poetisch, sondern auch philosophisch, und dann beginnt aus dem Nichts der Schlusschor in c-Moll «Ruht wohl». Aber das Grab ist nicht das Ende. Bach lässt noch einen Choral folgen: die Seele geht zu den Engeln ein, und die göttliche Majestät (Es-Dur) lebt in Ewigkeit.

Die Johannes-Passion war Bachs erstes grosses Werk für Leipzig, blieb aber eine Art «Dauerbaustelle»: Zwischen 1724 und 1749 entstanden vier Fassungen. Welche hören wir heute Abend?

Bach hat für seine letzte Aufführung auf die originale Version von 1724 zurückgegriffen, diese aber noch einmal überarbeitet. Wir spielen diese letzte in Partitur und Stimmen überlieferte Fassung. Sie ist die heute üblicherweise gespielte Fassung. Von ihr weichen die zweite Fassung von 1725 und die dritte Fassung (um 1730) relativ stark ab.

Die acht Mitglieder des englischen Vokalensembles «Solomon’s Knot» fungieren sowohl als Solistinnen und Solisten, als auch als Chor. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Wir haben vor drei Jahren die Matthäus-Passion in einer dem Werk entsprechenden üppigen Besetzung aufgeführt, damals hegte ich den Wunsch, als Kontrast eine ganz klein besetzte Johannes-Passion zu programmieren. Solomon’s Knot ist eine der ersten Adressen dafür, aber das Ensemble nennt sich nur ohne Dirigent so. Dass es mich als Leiter der Aufführung akzeptiert, ist mir eine Ehre und sicher Zeichen unserer künstlerischen Freundschaft.

Weshalb hast Du Dich dazu entschieden, die Johannes-Passion auf den Spielplan zu setzen? Oder anders gefragt: Was hat uns dieses Werk heute noch zu sagen?

Oratorien sind wie Opern durchkomponierte abendfüllende Werke, mit denen sich ein Komponist oder eine Komponistin sehr lange und eingehend auseinandergesetzt hat. Im Gegensatz zu einer Messe, die einen vorgegebenen Text hat, oder einem instrumentalen Auftragswerk, folgt ein Oratorium einem zwar geistlichen, aber in seiner Erzählart freieren Inhalt. Ich habe während meiner Zeit bei TOBS fünf solche Oratorien aufgeführt, Ein Deutsches Requiem von Brahms auf frei zusammengestellte Bibeltexte, Händels Messias – das Leben Jesu von der Geburt bis zur Auferstehung, ebenfalls aus Bibelstellen des Alten und Neuen Testaments frei zusammengesetzt – und von Bach das Weihnachtsoratorium und die beiden Passionen. Man würde die Liste nun vielleicht fortsetzen mit den grossen Oratorien von Haydn oder Mendelssohn.

Geistliche Musik hat für mich seit früher Kindheit eine Bedeutung. In Oratorien-Aufführungen, wo meine Mutter als Solistin mitwirkte, konnte ich Musik und Konzert erstmals hautnah miterleben. Damals war es der grosse Apparat, der mich faszinierte, oder die Rolle des Dirigenten, der das alles zusammenhalten muss und steuern darf. Heute interessiert mich vor allem die Spiritualität, die ich als Deutschsprachiger, in einer reformierten Kultur Aufgewachsener bei Bach besonders gut spüre. Bach ist ein Universum, mit dem in Berührung zu kommen für Ausführende und Zuhörende gleichermassen ein Erlebnis ist. Seine Musik – und Bach hat im Gegensatz zu allen anderen Komponistinnen und Komponisten nichts Schlechtes oder weniger Gelungenes geschrieben – ist eine Synthese von intellektuell durchdachter Meisterschaft und emotionaler Energie. Wir verstehen nie alles, wir können analysieren, wir können lernen ein Leben lang, aber wir fühlen uns von Anfang an abgeholt, wir sind berührt, unabhängig von Raum, Zeit und Ort.

(Natalie Widmer ist Dramaturgin bei Theater Biel Solothurn TOBS)