Joseph Lauber – „Das ist der Klang der Alpen“

Ende März 2022 erschien beim Musiklabel Schweizer Fonogramm die dritte und letzte von insgesamt drei aussergewöhnlichen CDs: Die Welterstaufnahme des sechsteiligen, vom Schweizer Dirigenten Kaspar Zehnder im Jahr 2017 wiederentdeckten sinfonischen Werks des Schweizer Komponisten Joseph Lauber. Lauber war zu seiner Zeit – im späten 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts – ein bekannter Schweizer Musiker, der mit seinem Wirken zunächst in der Region Neuenburg, dann im Raum Zürich und ab 1900 vor allem in Genf markante Spuren hinterliess.

Lesen Sie dazu Kaspar Zehnders Gedanken im Interview mit Angela Kreis-Muzzulini.

AKM: Kaspar Zehnder, Du bist sowohl in deiner Eigenschaft als Dirigent wie auch als Flötist bekannt dafür, immer wieder Neues zu entdecken. Wie findest Du unbekannte, aussergewöhnliche Musikwerke?

Ich glaube, man muss einfach mit offenen Augen und Ohren durch die Welt und durchs Leben gehen, dann fliegen einem Dinge zu. Dann muss man kritisch genug sein, um das für den aktuellen Moment Interessante vom Irrelevanten zu trennen. Auf Joseph Lauber hat mich meine Frau, die nota bene in Rumänien aufgewachsene Flötistin Ana Oltean aufmerksam gemacht. Lauber hat das Repertoire für Flöte signifikant erweitert, und das in einer Zeit, als sie als solistisches oder kammermusikalisches Instrument erst gerade aus einem langen Dornröschenschlaf erwacht war. Ich habe dann im Internet ein bisschen recherchiert, aber wenig über Lauber gefunden, das wichtigste war der Hinweis auf ein Werkverzeichnis, welches die Universitätsbibliothek Lausanne herausgegeben hatte. Diese grüne Lauber-Bibel ist mein Schlüssel zur Schatztruhe, immer noch.

Welche Rolle spielt die Schweizer Musik in deinen Recherchen und in deiner Programmzusammenstellung?

Als Gastdirigent ausländischer Orchester werde ich immer wieder gefragt, ob ich ein Konzertprogramm zusammenstellen könnte, das einen Bezug zur Schweiz als Alpenland herstellt. Während der Arbeit am Programm für den „Schweizer Frühling“, einer Reihe von Veranstaltungen in der Tschechischen Republik, welche ich 2013 kuratieren durfte, habe ich begonnen, mich mit Schweizer Musik jenseits der im Ausland gerade noch bekannten Arthur Honegger oder Frank Martin oder der noch lebenden zeitgenössischen Komponist*innen auseinanderzusetzen.

Was genau verstehst Du unter zeitgenössischen Komponisten? Gibt es einen Unterschied zu Komponisten von heute?

Die Terminologie ist breit: Aktuelle Musik, Zeitgenössische Musik, Moderne Musik. Glücklicherweise ist man heute etwas toleranter geworden und lässt den Komponist*innen ihre eigene Ästhetik bzw. urteilt eher die Qualität als das Absolut und Unbedingt Neue. Ich hatte immer grosse Mühe mit den Zeitgenössischen Dogmen des 20. Jahrhunderts und ein grosses Verständnis für Dissidenten und Exzentriker, denn sie haben der Zeitgenössischen Musik letztlich aus der Sackgasse geholfen. Auch hier: es ist doch viel wichtiger, dass man mit Fantasie und mit Mut zur Eigenständigkeit komponiert als nur nach Darmstädter Vorschriften oder nach dem Gütesiegel Französischer Nachkriegsästhetik strebend.

Was ist das Geheimnis des Erfolgs, den Du bei den Interpreten und beim Publikum mit neu entdeckten Werken immer wieder erfahren darfst?

Seit Antritt meiner Position in Biel/Solothurn habe ich neben der regelmässigen Pflege der Musik von noch lebenden Komponist*innen unseres Landes immer wieder internationale Solisten angeregt, Werke von zu ihrer Zeit sehr vielgespielten, heute fast gänzlich vergessenen Schweizer Komponisten zu spielen: Juon, d’Alessandro, Burkhard, Schibler, Moeschinger oder Beck beispielsweise, jedes Mal mit grossem Erfolg bei Interpreten und Publikum.

Ein besonderes Augenmerk von dir liegt offensichtlich auf Schweizer Komponisten und Komponistinnen?

Im Rahmen der Ausgabe 2016 meines Festivals Murten Classics war „La Suisse“ das Thema, 35 Konzerte drehten sich um von Schweizern oder in der Schweiz geschriebene Musik. Unter den Entdeckungen befand sich als wohl bedeutendste das Flötenkonzert von Joseph Lauber. Jahrzehntelang hatte es im Dornröschenschlaf gelegen, ich spielte es aus dem originalen Material der Uraufführung. Laubers flüssige, grosszügige Handschrift hat mich beim Üben sehr inspiriert.

Hattest Du eine derartige Fülle in Laubers Werk erahnt?

Mein Staunen war sehr gross, als ich im Katalog seiner Werke auf die Fülle und Vielfalt seines Schaffens stiess. Natürlich wollte ich mich zunächst über die Biographie des Genfer Pädagogen (er war bekanntlich der Lehrer von einigen Schweizer Komponisten wie Frank Martin, Richard Flury, Henri Gagnebin, André-François Marescotti oder Emil Frey) informieren, konnte aber nur wenige Informationen finden.

Joseph Laubers Werke begleiten dich schon lange. Was hast Du empfunden, als Du seine von dir wiederentdeckten sechs Sinfonien erstmals mit dem Orchester spielen konntest?

Es gab während der ganzen Zeit fünf Momente, an die ich mich immer mit Hühnerhaut erinnern werde:

  1. im Februar 2018 – die erste Sichtung der sechs Sinfonien aus den Kisten in der Lausanner Bibliothek.
  2. zwei Jahre später – die erste Probe der Ersten Sinfonie für das Test-ABO-Konzert im Februar 2020.
  3. Ende Mai 2020, unmittelbar nach dem ersten Corona-Lockdown: Das erste Zusammenfinden mit Teilen des Orchesters für die Vorbereitungen der Aufnahme.
  4. während der Sommerferien 2020: Der Moment, als ich den ersten Schnitt bekam und in meinem Wohnzimmer hören konnte.
  5. im April 2022, als ich die drei CDs vollendet in meinen Händen hielt.

Was ist das Bedeutungsvolle in der Schweizer Musikwelt um die Jahrhundertwende 1900?

Wenn auch vieles lückenhaft ist und weiterer wissenschaftlicher Beleuchtung harrt, so finden sich im Lebenslauf Joseph Laubers doch sehr viele Anhaltspunkte, welche für die Schweizer Musik um 1900 bedeutend sind:

Lauber war in der Deutschschweiz und in der Romandie gleichermassen zu Hause. Er hat die Gründung von Konservatorien, Konzertsälen, Opernhäusern persönlich miterlebt und die während seiner Ausbildung gesammelten Eindrücke von deutscher Spätromantik und französischem Impressionismus mit seiner eigenen Inspiration verschmolzen. Bereits bei der Einleitung zu seiner Ersten Sinfonie wird sofort klar: Das ist der Klang der Alpen. Und als Gründungsmitglied des Schweizerischen Tonkünstlervereins brachte er sein Bestreben zum Ausdruck, eine eigenständige Schweizer Nationalmusik zu definieren, welche sich über die Sprachgrenzen hinweg profilierte.

Wie ist es zu erklären, dass Komponisten wie seinerzeit Johann Sebastian Bach oder eben Joseph Lauber vergessen werden?

Joseph Lauber hatte das Glück, Teil der grossen musikgeschichtlichen Strömungen im ausgehenden 19. Jahrhundert zu sein, er hatte aber auch das Pech, von der Welle der musikalischen Avantgarde nach in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überrollt und verdrängt zu werden. Nur dadurch, und nicht durch fehlende Qualität in seinem Schaffen, kann erklärt werden, dass Joseph Lauber bis vor kurzem vergessen blieb, dass keines seiner Orchesterwerke in den Programmen der Orchester in der Schweiz und im Ausland auftaucht.
Mit grösster künstlerischer Überzeugung haben der Tonmeister Frédéric Angleraux, das Sinfonie Orchester Biel Solothurn, das Label Schweizer Fonogramm, der Musikverlag BIM und ich uns daran gemacht, diese Lücke zu schliessen.


Joseph Lauber
wurde 1864 im luzernischen Ruswil geboren, wuchs im Neuenburger Jura auf, spielte bereits als Kind in der Kapelle seiner Familie, wurde von einem bedeutenden Chocolatier gefördert und nach Zürich in die musikalische Lehre geschickt. In Zürich war Friedrich Hegar (Leiter der Tonhalle, Kapellmeister am Stadttheater, Chorleiter, Gründer und Direktor des Konservatoriums) sein Förderer. Nach Zürich waren Laubers weitere Stationen München, wo er als Schüler von Joseph Rheinberger auf später bedeutende Exponenten der deutschen Spätromantik traf, Paris, wo er in der Obhut von Jules Massenet die Entstehung des musikalischen Impressionismus hautnah miterlebte. Zurück in Zürich leitete er eine Klavier-Virtuosenklasse, war Gründungsmitglied des Schweizerischen Tonkünstlervereins. Letzterer wurde gegründet im Bestreben, dem schweizerischen Musikschaffen zu interkantonaler (nationaler) und internationaler Ausstrahlung zu verhelfen. Um die Jahrhundertwende folgt Lauber einer Berufung ans Genfer Grand Théâtre, wo er zahlreiche Opern (etwa von Massenet oder Puccini) in Schweizer Erstaufführung dirigierte, später war er Lehrer am Conservatoire de Genève. In den Sommermonaten zog er sich in sein Chalet in Les Plans s. Bex zurück und komponierte bis zu seinem Tod im Jahr 1952 von der gewaltigen Alpenlandschaft Musik von der gewaltigen Alpenlandschaft inspiriert eine Fülle von Werken, die heute durch ihre Ideenvielfalt und Kreativität wieder internationale Beachtung finden.