Vom 2. bis zum 18. August 2024 bringt die Sommeroper Selzach unter der musikalischen Leitung des Dirigenten Kaspar Zehnder die Originalversion von Georges Bizets «Carmen» auf die Bühne des 1889 erbauten Passionsspielhauses. Regie führt die in Solothurn ausgebildete, international bekannte Schweizer Mezzosopranistin Maria Riccarda Wesseling. Die ganze Region des nur wenige Kilometer westlich der Schweizer Stadt Solothurn am Jurasüdfuss gelegenen 3700-Seelendorfes fiebert jeweils im biennalen, vor 35 Jahren erstmals durchgeführten Festival mit.
Maria Riccarda Wesseling inszeniert neben ihrer erfolgreichen Sängerkarriere seit 2018 regelmässig Opern. Sie hat die Titelrolle der Carmen auf vielen internationalen Bühnen selbst gesungen. Auf Ihre aufwändige Umsetzung der beliebten Oper darf man deshalb besonders gespannt sein.
Für den Schweizer Dirigenten Kaspar Zehnder ist das Dirigieren von Opernaufführungen eine Herzensangelegenheit. Die Berliner Musikwissenschafter Meike Lieser hat sich mit Kaspar Zehnder über seine Empfindungen zu der aus vier Akten bestehenden Oper unterhalten:
Warum habt ihr euch dafür entschieden, die Oper auf Französisch aufzuführen?
Carmen geht für mich nur auf Französisch, etwas anderes wäre für mich gar nicht in Frage gekommen. Die Novelle von Prosper Mérimée, die der Oper als Grundlage dient, ist auf Französisch. Auf Deutsch klingt Carmen nicht gut. Ganz abgesehen davon mag ich auch keine synchronisierten Filme, mindestens nicht, wenn sie im Original gut sind.
… und warum für die Dialogfassung?
Die Dialogfassung ist die Originalfassung. Genial daran sind nicht nur die Dialoge selbst – die man im Übrigen auf ein Minimum zusammenstreichen kann, damit die Sänger*innen nicht zu viel sprechen müssen – , sondern auch die melodramatischen Passagen, also die Partien, in denen der gesprochene Text mit Musik unterlegt ist. Hier findet unter dem Text (quasi subkutan) eine Reflexion der musikalischen Motive statt. Dadurch verdichtet sich das bei Bizet sehr ausgeprägte und raffinierte Tonartengefüge, welches durch die Fassung mit gesungenen Rezitativen eher verwässert wird, wobei diese ja auch nicht von Bizet selbst stammen.
«Und unter allen Opern ist Carmen
vielleicht eine der leidenschaftlichsten.»
Passt Carmen denn zum Passionsspielhaus in Selzach?
Ja, ich denke, Carmen ist ideal für diesen Spielort. Ich finde, gerade diese Oper passt viel besser an einen Ort wie Selzach oder auch in eine alte Fabrik als in ein traditionelles Opernhaus. Das Haus in Selzach wurde Ende des 19. Jahrhunderts zwar für christliche Passionsspiele erbaut, aber das Wort «Passion» steht ja nicht nur für das Leiden Christi, sondern auch einfach für Leidenschaft. Spätestens mit Kazantzakis‘ Griechischer Passion * wird deutlich, wie nahe Leiden und Leidenschaft einander stehen. Und unter allen Opern ist Carmen vielleicht eine der leidenschaftlichsten. Das hat auch der Regisseur Peter Brook mit seiner „kleinen“ Carmen ** unterstrichen, einer verdichteten, quasi auf Leidenschaft und Ritual reduzierten Version der Oper.
«Bizets Carmen kann als der Prototyp
der spanischen Musik angesehen werden.»
Bizet ist ja eigentlich nicht viel herumgekommen, fühlte sich aber offenbar immer angezogen von Stoffen, die in weiter Ferne spielen. In Spanien war er auch nie, trotzdem gilt zumindest ausserhalb Spaniens Carmen vielen als Inbegriff der spanischen Musik. Wie siehst du das? Oder ist Bizet im Gegenteil eigentlich ein typisch französischer Komponist?Bizets Carmen kann als der Prototyp der spanischen Musik angesehen werden, die als nationale Stilrichtung unter der Federführung von Manuel de Falla oder Isaac Albéniz erst entstehen sollte. Die meisten Vertreter der spanisch-nationalen Musik haben sich das kompositorische Handwerk in Paris gesucht. Bizet war in vielen seiner anderen Werke, beispielsweise in der Musik zum Theaterstück L’Arlésienne, in der genialen C-Dur-Sinfonie, die er mit 16 geschrieben hat oder in der Klaviermusik, auch einfach ein typischer französischer Romantiker, der sein sollte, daran glaubte während und unmittelbar nach der Uraufführung offenbar niemand wirklich. Vielleicht war Bizets neue Oper dem Publikum der Opéra comique einfach auch zu plakativ, zu populistisch anbiedernd. Es wird darin folkloristisches Material zur Kunstform erhoben: etwa die Habanera, deren Name angelehnt ist an „Havanna“, und die vom Rhythmus her eine Urform des Tangos ist. Oder die Seguidilla, ein von Kastagnetten und Gitarre begleiteter andalusischer Volkstanz. Carmen als Heldin stellt für die gehobene Gesellschaft im Paris des Jahres 1875 eine randständige und eigentlich untragbare Existenz dar. Carmen als Oper ist für mich eine Art Zwischenhalt zwischen Verdis La Traviata und Puccinis La Bohème. Aber vielleicht war in Italien das Opernpublikum auf dem Weg zum Verismo einfach auch schon weiter fortgeschritten. Übrigens hat mir vor 25 Jahren ein Stammgast des Berner Stadttheaters mitgeteilt, dass er Carmen nicht mag, weil es eine Hurenoper sei, die in einem schönen Opernhaus nichts verloren habe.
Carmen hat mich als Jüngling fasziniert, weil sie formal von Mozarts Singspielen herkommt,
aber stilistisch und von der Besetzung her natürlich weit fortschreitet.
Du hast ja Carmen zuvor auch andernorts schon dirigiert. Wie weit reicht deine Bekanntschaft mit dieser Oper zurück?
Als Kind habe ich alle grossen Mozart-Opern auswendig gelernt. Als heranwachsender Jüngling war ich auf der Suche nach reelleren Stoffen, aber auch nach grösserem Klang. Carmen hat mich da fasziniert, weil sie formal von Mozarts Singspielen herkommt, also eine Nummernoper ist, aber stilistisch und von der Besetzung her natürlich weit fortschreitet. Übrigens ähnlich wie Tschaikowskis Eugen Onegin, der vier Jahre nach Carmen uraufgeführt wurde.
«Carmen ist für mich eben nicht die plakative Hurenoper,
sondern ein feines Gewebe an psychologischen Zwischentönen.»
Werdet ihr in musikalischer Hinsicht eine eher „singspielhafte“, weniger dramatische Carmen präsentieren?
Meine Aufgabe als Dirigent ist es, das Klangbild mit dem Orchester um das stimmliche Material zu bauen, das mir zur Verfügung steht. Die Balance in einem Ensemble-Stück orientiert sich dabei nicht nur an der Grösse der Stimmen, sondern vor allem auch an deren Aufstellung im Raum, muss also die Regie berücksichtigen und ihr zudienen. Aber ich finde in der Carmen gerade auch die lyrischen Seiten besonders attraktiv. Carmen ist für mich eben nicht die plakative Hurenoper, sondern ein feines Gewebe an psychologischen Zwischentönen.
«Ich freue mich besonders auf das gemeinsame Fest,
das eine ganze Region zum Schwingen bringt.»
Worauf freust du dich besonders im Hinblick auf die Selzacher Carmen?
Ich freue mich auf die Menschen auf der Bühne, im Orchestergraben, auf die temporäre Familie im Produktionsteam, auf das Publikum, auf das gemeinsame Fest, das eine ganze Region zum Schwingen bringt. Und ich freue mich, 14 Jahre nach meiner letzten Carmen die Partitur ganz neu ausleuchten zu dürfen. Ohne festgefahrene Meinung, offen für das, was mir in Selzach zur Verfügung steht und angeboten wird, aber auch ein bisschen gereift im musikalischen Ausdruck.
* Nikos Kazantzakis: Griechische Passion, Roman, 1948. Darin wird ein griechisches Dorf, das ein Passionsspiel plant, mit dem Leid ankommender Flüchtlinge konfrontiert, denen die Dorfbewohner grossteils ablehnend begegnen.
** La tragédie de Carmen, 1981, konzipiert von Peter Brooks nach Bizets Carmen mit einem kammermusikalischen Arrangement von Marius Constant
Die Aufführungsdaten:
2. / 4. / 7. / 9. / 10. / 11. / 13. / 15. und 17. August 2024
Die Ausführenden
Musikalische Leitung Kaspar Zehnder
Inszenierung Maria Riccarda Wesseling
Ausstattung Oskar Fluri
Licht Sigi Salke | Kai Pflüger
Choreinstudierung Valentin Vassilev
Studienleitung Jean-Jacques Schmid
Künstl. Betriebsleitung Thomas Dietrich
Produktionsleitung René Gehri | Pia Bürki
Die Besetzung
Carmen Deborah Saffery
Don José James Kryshak
Escamillo Marcel Brunner
Micaëla Marion Grange
Frasquita Stefanie Frei
Mercédès Astrid Pfarrer
Zuniga Jasper Leever
Moralès Iyad Dwaier
Dancaïro Wolfgang Resch
Remendado Konstantin Nazlamov
Flamencotänzerin: LaDina Bucher
Plakat-Design: Stephan Bundi