Mit dem Kammerorchester Klaipėda aus Litauen, der temperamentvollen argentinischen Sängerin Analia Selis, die sich insbesondere auch für die Tradition des Tangos ihres Heimatlandes und die Musik von Astor Piazzolla einsetzt, Mariano Castro (Klavier, Arrangement) und Nicolás Velázquez (Bandoneon) eröffnet der Schweizer Dirigent und Dramaturg Kaspar Zehnder das Concentus Moraviae Festival 2022 am Dienstag, 31. Mai 2022 in der tschechischen Stadt Boskovice. Das Abschlusskonzert vom 27. Juni 2022 in Zlín ist zugleich der Auftakt zu einer internationalen Tournee der tschechischen Mezzosopranistin Magdalena Kožená und ihrem Ehemann Simon Rattle, die von einem Ensemble aus ihren Musikfreunden begleitet werden.
Als Gastkurator und Dramaturg des Internationalen Concentus Moraviae Festival hat Kaspar Zehnder eine ganz besondere Festival-Art ins Leben gerufen. Vom 31. Mai bis zum 27. Juni 2022 präsentieren unzählige Musikerinnen und Musiker in der Region Mähren mit Leidenschaft und Engagement ausgewählte Volksweisen und führen das Publikum damit auf eine besondere musikalische Erlebnisreise. Das Festival wird in mehreren tschechischen Städten und grenznahen Orten in den Nachbarländern ausgetragen.
Kaspar Zehnder beleuchtet im Gespräch mit der Fachjournalistin Angela Kreis-Muzzulini das Thema «Von der Wurzel bis in die Zukunft» des Concentus Moraviae Festival 2022 und seine Festival-Philosophie.
AKM Was motiviert das Publikum dazu, ein unter Umständen fernes Musikfestival zu besuchen?
KASPAR ZEHNDER: Zwischen der Vergangenheit und der Zukunft liegt die Gegenwart. Auf Lateinisch heisst «Dazwischen-Sein» Inter Esse. Was uns Menschen heute interessiert, hat sowohl mit unserer Herkunft als auch mit unserem Weg in die Zukunft zu tun. Besonders reizen dürfte das Publikum zum einen die Reise in eine interessante Gegend, die sonst vielleicht nicht ein prioritäres Reiseziel wäre, zum anderen natürlich die gespielte Musik und die Künstlerinnen und Künstler. Beides verbindet sowohl Vergangenheit und Zukunft, dazwischen zu sein bedeutet deshalb im wahren Sinn inter esse, also auch im Hier und Jetzt zu leben.
Von einem Gastkurator wird immer wieder besondere Kreativität gefordert. Was steht im Zentrum des Festivals Concentus Moraviae, dem Mähren-Festival?
Im Zentrum des Festivals steht das Interesse, das den kreativen Menschen auf seinem individuellen Weg weiterbringt. Künstlerinnen und Künstler sollen ihre persönlichen Leidenschaften, ihre echten Herzensangelegenheiten formulieren und musikalische Werke präsentieren, mit der sie sich seit langer Zeit intensiv auseinandergesetzt haben, und die sie mit viel Herzblut und Emotion zu vermitteln wissen. Wir wollen das Publikum an der Hand nehmen und auf eine musikalische Reise mitnehmen.
Mähren ist neben Böhmen und Tschechisch-Schlesien bzw. Österreichisch-Schlesien gemäss Wikipedia eines der drei historischen Länder Tschechiens. Spielt die reiche Geschichte im Musikprogramm eine Rolle?
Mähren im Südosten und Osten Tschechiens ist tatsächlich eine weit in die Geschichte zurückreichende Region. Im 9. Jahrhundert war dort das Mährerreich, dann wurde es im 11. Jahrhundert ein Land unter der böhmischen Krone, bevor das Gebiet für mehrere hundert Jahre als Markgrafschaft Mähren von den Habsburgern verwaltet wurde. Das Festival-Programm umfasst nebst tschechischer Musik aber ein riesiges Feld an Volksweisen aus ganz unterschiedlichen Gegenden unserer Welt.
Klänge aus Ländern und Regionen wie Armenien, Georgien, Rumänien, Siebenbürgen (Transsilvanien), Spanien, Mähren, Ungarn, Argentinien, Flandern oder Irland berühren uns direkt, weil sie unmittelbar der Volksseele entsprungen sind oder eine Legende erzählen, uns an alte Geschichten und einst Erlebtes, an unsere Wurzeln erinnern und in uns eine alte «Saite» wieder zum Schwingen bringen. Wir singen Melodien, die von Generation zu Generation überliefert worden sind, wir tanzen Rhythmen, die lange Wege der Migration mitgemacht haben: vom Orient über Nordafrika nach Iberien, von der keltisch geprägten Westküste Irlands in das angelsächsische Mitteleuropa, von Andalusien über Havanna nach Lateinamerika.
Was fasziniert dich derart an der Weltmusik?
Wie die anderen Musikgenre ist die Weltmusik grenzenlos, kennt keine politischen, sprachlichen oder konfessionellen Barrieren. Musik bleibt nicht stehen, sondern ist in steter Bewegung, verändert sich, moduliert von Moll nach Dur, verändert den Charakter durch die Farbpalette der Tonarten.
Der Interpretation kommt eine ebenso kreative Rolle zu wie der Schöpfung selbst: Die Ausführenden dürfen sich die Freiheit nehmen, die musikalische Komposition individuell zu lesen, persönlich zu beleuchten und in einen aktuellen Kontext zu stellen. Das gleiche Stück unterscheidet nicht nur in verschiedenen Interpretationen, sondern klingt auch je nach Ort, Raum und Zeit anders. Auch längst bekannte Musik überrascht und fasziniert uns immer wieder neu.
Wo liegen deine eigenen musikalischen Wurzeln?
Meine eigenen musikalischen Wurzeln sehe ich zuallererst bei Johann Sebastian Bach. Sie repräsentiert nicht nur meine protestantische Herkunft, sondern bedeutet für mich Inspiration, Universum und Faszination zugleich.
Als Schweizer habe ich seit meiner Kindheit auch die Gegensätze deutscher und italienischer, französischer und österreichischer Kultur mitbekommen. Aus dem Dazwischen Sein hat sich ein echtes Interesse für die Musik unserer Nachbarländer entwickelt. Fremdsprachen konnte ich mir mehr und mehr verinnerlichen. Mit der Zeit bin ich die Wege weiter gegangen, von Frankreich nach Grossbritannien, über Spanien oder Italien nach Nordafrika, von Deutschlands Norden weiter nach Skandinavien und ins Baltikum, ostwärts nach Tschechien zu Smetana, Dvořák und Janáček, in die Slowakei, ins jüdische Shtetl Galiziens und nach Russland. Nicht zuletzt aus familiären Gründen hat es mich immer wieder Donau abwärts gezogen: nach Ungarn und Rumänien, auf den Balkan, ans Schwarze Meer und in Richtung Orient.
Am Concentus Moraviae Festival können uns unzählige Musikerinnen und Musiker auf der Basis ihrer eigenen Erfahrung die Geschichte vom Unterwegs-Sein erzählen, von der Sehnsucht nach der Heimat. Sie lassen uns ihre ganz individuelle Reise miterleben.
Was erwartet die Festivalbesucher vom 31. Mai bis zum 27. Juni 2022?
Der armenische Duo Sergey und Lusine Khachatryan, die baskische Pianistin Judith Jáuregui, der andalusische Gitarrist Rafael Aguirre, die argentinische Tango-Sängerin Analia Selis, die tschechische Flötistin Jana Jarkovská, das Arcadia Quartet aus Siebenbürgen, das georgische Klavierduo Natia und Tamar Beraia und last but not least die mährische Sängerin Magdalena Kožená führen uns in die Klänge ihrer Heimat ein.
Der tschechische Geiger Pavel Fischer erhält eine carte blanche für zwei Programme.
Les Musiciens de Saint-Julien (Frankreich) nehmen uns auf der High Road to Kilkenny nach Irland mit. Das Sirba Octet lässt uns zur Musik der Juden und Roma Osteuropas vom Sessel aufspringen. Das vokale Pendant finden wir in «Le mystère des voix bulgares», einer Mischung zwischen vokaler Extase und Meditation.
Die tschechischen Schlagzeuger Martin Kleibl und Martin Opršál fühlen den Puls der Menschheit vom Homo Erectus bis in die Neuzeit nach.
Und inmitten all dieser Strömungen, Reisen und Wege steht als erratischer Block ein Abend mit Orgelmusik Johann Sebastian Bachs. Er verleiht mir die Inspiration zum Schaffen von Neuem und eine unvergleichliche Faszination am Universum der Musik. Das alles steht im Brennpunkt, im Zentrum des Interesses für mich als Dramaturg, für alle am Festival Concentus Moraviae teilnehmenden Musikerinnen und Musiker, aber auch des Publikums.